Die Tagesschau in Einfacher Sprache unter der Lupe: Einfach spitze oder noch Luft nach oben?

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Seit dem 12. Juni 2024 gibt es die Tagesschau auch in Einfacher Sprache – und zwar jeden Tag um 19 Uhr auf tagesschau24 oder ab 18 Uhr auf tagesschau-in-einfacher-sprache. Endlich. Die Tagesschau als wichtigster öffentlich-rechtlicher Nachrichtendienst in Deutschland kommt mit dem neuen Angebot ihrer Verantwortung nach, möglichst viele Menschen mit Informationen zu versorgen. Denn: Verständliche Nachrichten sind notwendig, damit wir alle uns eine Meinung bilden und an unserer Demokratie teilhaben können.

Am Donnerstag kamen knapp 25 Kolleg*innen beim monatlichen Online-Stammtisch über Leichte Sprache zusammen. Es wurde hitzig diskutiert. Viele finden: Das Angebot ist falsch gelabelt. Sprachlich entspreche es eher den etablierten Konventionen der Leichten Sprache als denen der Einfachen Sprache. Der Unterschied ist: Leichte Sprache richtet sich in erster Linie an Menschen mit Lernschwierigkeiten, Einfache Sprache hat eine breitere Zielgruppe.

Ich persönlich denke, das Etikett ist letztlich egal. Entscheidend ist, ob das Angebot für Nutzende verständlich und insgesamt angemessen ist. Dass es da an einigen Stellen noch Luft nach oben gibt, möchte ich im Folgenden zeigen. Dabei orientiere ich mich an den 5 Angemessenheitsfaktoren von Sprachwissenschaftlerin Bettina M. Bock.

1. Adressat*innen

Das Angebot sollte für seine Zielgruppe weder zu leicht noch zu schwer sein.

Aber wen genau soll die Tagesschau in Einfacher Sprache überhaupt erreichen? Laut eigener Aussage „Menschen mit Lern-, Lese- oder Hörschwierigkeiten, Menschen mit geringen Deutschkenntnissen oder mit geringer Bildung“. Das seien etwa 17 Millionen Menschen.

Ich würde Menschen mit Hörschwierigkeiten nicht pauschal als Zielgruppe eines audiovisuellen Mediums in verständlicher Sprache benennen. Ein Teil nutzt die Deutsche Gebärdensprache, ein anderer Untertitel. Es stimmt, dass eine Hörschädigung den Erwerb der Lautsprache erschwert, weshalb viele Schwierigkeiten mit langen Satzstrukturen haben. Vereinfachte Untertitel wären aber auch für die reguläre Tagesschau denkbar, bei der der Inhalt nicht auf vier bis fünf Beiträge begrenzt wird.

Auch ohne diesen Personenkreis bleibt es eine sehr breite Zielgruppe. Darunter fallen Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind und solche, die neu in Deutschland sind. Alt und jung, mit Lernschwierigkeiten und ohne. Eine Sprache zu finden, die alle erreicht, die für niemanden zu schwer, aber auch nicht zu leicht ist? Die nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig erklärt? Eine Herausforderung. Die Verantwortlichen sagen offen, dass sie ausprobieren und Reaktionen abwarten, ein bisschen Learning by Doing also. Ein Glück, dass sie dafür jetzt jeden Tag Gelegenheit haben.

In den ersten Sendungen gibt es einige Beispiele, bei denen der Anspruch nicht erreicht wird. So beginnt der erste Beitrag vom 12. Juni mit den Worten „In Deutschland heißt das Militär Bundeswehr. Bei der Bundeswehr arbeiten Soldaten“. Wer ganz neu in Deutschland ist, dem wird die Erklärung helfen. Für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist die Erklärung aber schwieriger als der erklärte Begriff, für alle anderen ist sie schlicht überflüssig.

Ein weiteres Beispiel: Länder und Städte werden immer als solche benannt. So heißt es „das Land Ungarn“ in mehreren Sätzen in Folge. Beim ersten Hören ist der Hinweis, dass es sich um ein Land handelt, für einige Zuschauende noch hilfreich. Im nächsten Satz ist es dann aber bekannt. Auch Pronomen werden grundsätzlich nicht verwendet und Kausalsätze mit „nämlich“ aufgelöst – und es gibt sehr viele Kausalsätze … Das ist Leichte Sprache (nicht Einfache Sprache) streng nach Hildesheimer Schule.

Ich habe verschiedene Menschen mit Lernschwierigkeiten nach ihrer Meinung gefragt. Ihnen gefällt das Angebot sehr gut. Die Wiederholungen fallen ihnen nicht negativ auf. Ich bin mir aber sicher: Sie brauchen sie auch nicht, um zu verstehen. Der Leitgedanke sollte daher immer sein: So kurz wie möglich, so lang wie nötig. Zudem sollte die Sprache möglichst wenig als Sonderlösung markiert werden, um zum Beispiel (in Deutschland sozialisierte) Menschen mit geringer Bildung nicht abzuschrecken.

2. Funktion

Das Angebot sollte deutlich machen: Die Funktion ist, Erwachsene sachlich zu informieren.

Dies wird durch die tagesschauspezifische Aufmachung inklusive Jingle am Anfang sofort klar – gut gemacht würde ich sagen.

3. Inhalt

Passt die sprachliche Darstellung?

Schauen wir, wie das Nachrichtenangebot in puncto Struktur, Tempo und Reihenfolge der Informationen aufgebaut ist.

Struktur

Der Inhalt ist gut strukturiert. Die klare Gliederung hilft beim Verstehen: Erst werden die Titel aller Beiträge kurz benannt, dann werden sie ausführlich behandelt und am Ende noch einmal kurz wiederholt. Auch die Reduzierung auf 4 bis 5 Beiträge ist aus Sicht der Verständlichkeit sinnvoll. Aber: Es bedeutet, dass eine Auswahl stattfindet. Laut Sonja Wielow solle eine ähnlich ausgewogene Mischung aus Nachrichten zu In- und Ausland erzielt werden wie bei den regulären Nachrichten, die Reihenfolge sei aber anders, weil die vereinfachte Sendung eher mit Beiträgen beginne, die nah dran seien am Leben der Zuschauenden.

Tempo

Das langsame Tempo ist angemessen. Verbesserbar ist aber die Betonung der Sprecherin. Leichte Sprache natürlich zu sprechen, ist erst einmal ungewohnt. Sehr einfacher Satzbau und die Vielzahl an Erklärungen verleiten dazu, in einen eher pädagogisch-belehrenden Tonfall zu verfallen und einzelne Begriffe übermäßig hervorzuheben. Sich trotzdem auf Augenhöhe an Erwachsene zu richten, braucht Übung. Es würde sicher helfen, wenn das Skript mehr zum natürlichen Sprechen geschrieben würde. Die Berichte klingen übrigens etwas flüssiger. Vielleicht, weil hier die Zeit durch die visuelle Information begrenzt wird?

Wortschatz

Den Finanzminister zum „Minister für Geld“ zu machen, erschwert das Verständnis außerhalb der Nachrichten und damit letztendlich Teilhabe. Es sollte daher immer darauf geachtet werden, dass Formulierungen üblich sind. Also lieber einführen und erklären als generell ersetzen. Zudem sollte nicht jedes Wort erklärt werden, weil die Texte so zu kleinteilig werden und der tatsächliche Inhalt untergeht.

Andrea Halbritter findet die Titel zu unverständlich, plädiert für ganze Sätze. Hier denke ich aber: Die Konvention der Tagesschau ist eine verknappte, elliptische Überschrift. So entspricht es daher auch eher den Erwartungen vieler Zuschauenden. Allerdings sollten die Formulierungen trotzdem möglichst selbsterklärend bleiben.

Reihenfolge der Informationen

Statt das Wichtigste zuerst, wird der Reihe nach erklärt. So wird fehlendes Weltwissen ausgeglichen. Trotzdem sollte zuerst kurz genannt werden, worum es geht. Denn sonst geht die Nachricht selbst in kleinteiligen Erklärungen unter. Das bestätigt das Feedback einer ukrainischen Freundin mit Sprachabschluss B1: „Das Tempo ist super. Sonst ist es immer zu schnell. Aber es sind sehr viele Erklärungen. Wenn die wichtige Info kommt, bin ich schon müde“. Worum es in dem oben genannten Beitrag im Kern ging – nämlich um die Wiedereinführung der Wehrpflicht – konnte sie mir nicht beantworten. Die entscheidende Information war untergegangen in unnötigen Erklärungen. Das ist ärgerlich.

Auf der anderen Seite ist wichtig, dass Erklärungen wirklich erklären. Ein Negativbeispiel:

„Die Polizei sucht kleine Geräte am Himmel. Die Geräte heißen Drohnen. Die Polizei holt die Drohnen herunter. Dann machen die Drohnen nämlich nichts kaputt“.

Warum die Drohnen Dinge kaputt machen? Das bleibt leider unklar.

4. Situation

Passt die Situation, in der das Angebot rezipiert wird?

Wenn das Lesen einen Kraftakt bedeutet, suche ich andere Wege. Deshalb ist ein audiovisuelles Angebot definitiv der richtige Weg. Ob YouTube, Mediathek oder nicht zuletzt das klassische Fernsehen. Ein Angebot als eigene Webseite ist als Zusatz nicht verkehrt, für viele aber schwer auffindbar und voller Barrieren. Schade, dass das Angebot nur auf tagesschau24 und nicht in der ARD ausgestrahlt wird, aber immerhin.

Ein kleines Detail fehlt mir auf den Webseiten: Der Zeitstempel. Ich kann nirgendwo ablesen, welche Nachricht von welchem Tag ist. Dadurch wird es zwar übersichtlicher, es fehlt aber eine entscheidende Information.

Gut wäre auch ein Kanal bei einem Nachrichtendienst wie WhatsApp wie ihn die reguläre Tagesschau und auch Logo anbietet. Meine Erfahrung ist, dass solche Kanäle zum Beispiel von Menschen mit Lernschwierigkeiten intensiv genutzt werden. Sie werden intuitiv verstanden (besonders hilfreich ist die Diktierfunktion und die Möglichkeit, Sprachnachrichten zu verschicken, aber das nur am Rande).

5. Sender*in

Passt die Sprache und Gestaltung zur Tagesschau?

Siehe meine Gedanken zu Funktion und Inhalt: Was die Aufmachung betrifft, ist das neue Angebot für die Tagesschau angemessen gestaltet. Es sollte aber darauf geachtet werden, dass die Sprache (Formulierungen und Sprechakt) sich mehr am Standard orientiert und weniger Sonderwege geht. Nur so wird die breite Zielgruppe, die erreicht werden soll, das Angebot auch annehmen. Neben den bereits genannten alternativen Formulierungen für gängige Begriffe wie der „Minister für Geld“ meine ich hiermit übrigens auch das Gendern: In der Tagesschau ist es üblich, die Doppelform zu nutzen. Dies sollte auch in der vereinfachten Variante so sein.

Ein wichtiger Schritt für mehr Teilhabe mit Potenzial zur Verbesserung

Die klare und verständliche Berichterstattung bietet eine Brücke für mehr Menschen zur Teilhabe an wichtigen Informationen. Sie bedeutet aber auch eine Verantwortung. Weniger Sonderwelt und mehr ein Angebot für alle wäre wünschenswert. Unsere Art, uns zu informieren, hat sich gewandelt. Statt lang und komplex wollen wir kurze, leicht verdauliche Informationshappen. Wir sind abgelenkter und weniger aufnahmefähig. Viele Menschen informieren sich heute lieber über Logo als über die Tagesschau – auch ohne Schwierigkeiten mit dem Lesen oder Verstehen zu haben. Aber auch solche, die auf verständliche Sprache angewiesen sind, erreichen wir eher mit einer Kommunikation auf Augenhöhe, die sich an Konventionen und dem allgemeinen Sprachgebrauch orientiert.

Liebe „Tagesschau in Einfacher Sprache“, ich wünsche euch viel Erfolg, Geduld mit unsachlicher Kritik und viele konstruktive Vorschläge, damit ihr schnell alle Menschen optimal informieren könnt!